Zeit-Zeugnis

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I wrote this in response to a request by the North-Rhine Westfalia Academy of Sciences and Arts (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste) to which I belong as an extraordinary member. The Academy ‘s leadership was hoping to celebrate its 50th Anniversary this year, before the plan was destroyed by the Pandemic.  Instead, they plan to publish a brochure or book with testimony from members about our exraordinary times.

ZEIT-ZEUGNIS 2020 – Joachim Frank — 16. Mai 2020

Mir fällt also jetzt das Wort “Schicksalsgemeinschaft” ein. Da ich nicht in Deutschland lebe, weiss ich nicht, ob das Wort inzwischen zum Klischee geworden ist. Ein Schicksal wirft Leute plötzlich zusammen, und sie müssen für eine unbestimmte Zeit zusammen leben und miteinander auskommen, komme was wolle. Lord of the Flies beschrieb eine solche Gemeinschaft, die ein böses Ende hatte. Ich denke an viele mögliche Fälle, wo entfernte Familienmitglieder oder Freunde beim Besuch von der Reisesperre überrascht wurden und sich nun notgedrungen mit der Gastgeberfamilie durch Tage und Wochen durchwursteln müssen. Verglichen mit diesen Extremen haben wir eine geradezu paradiesische Situation: wir leben zu fünft zusammen in unserem Ferienhaus auf anderthalb Hektar im Grünen in den Berkshires als Grosseltern mit unserer Tochter, Schwiegersohn und drei-Monate alten Enkelin. Die haben sich zugesellt nach 2-wöchiger Quarantäne, als die Situation im Brooklyn Apartment nicht mehr tragbar war. Und bizarrerweise haben sich damit zwei Wünsche meiner Frau aufs wunderbare erfüllt, wenngleich auf eine Art, die wir uns nicht hätten träumen lassen: sie wollte näher zur Enkelin wohnen, statt einer Stunde Abstand in Manhattan, und sie wollte öfters mal im Ferienhaus mehrere Wochen verbringen, anstatt der gelegentlich verlängerter Wochenende. Das ist jetzt alles erfüllt; der Abstand ist zu Null geworden, und wir werden wohl das ganze Jahr hier verbringen und auf eine Impfung warten, die uns hochjährige schützt.

Doch die Tage gehen jetzt vorbei ohne Struktur; wir scheinen eine Art Endzeit zu erleben, da die Zukunft völlig unsicher ist, oder gar nicht mehr vorstellbar. Ich sehe Seife und Zahnpasta kommen und gehen; die Zuckerdose wird gefüllt und der Inhalt verschwindet wie nichts; war es nicht erst gestern, dass ich meine Fingernägel geschnitten habe? Wir bringen Briefe und Pakete von der Mailbox mit dünnen blauen Gummihandschuhen in einen Vorraum, wo sie geduldig in Quarantäne auf unsere Aufmerksamkeit warten. Ich fahre zum Hardwarestore, wo mir eine Frau mit Gesichtsmaske Batterien in den Kofferraum wirft, und da ich kaum noch aus dem Haus und Garten herauskomme, ist der Trip für mich ein grosses Ereignis, an das ich zurückdenke abends, wenn ich mich schlafen lege. Ich verbringe Teil meines Tages damit, eine dreistufige Terasse für Tomatenpflanzen anzulegen, mit schweren Steinen als Begrenzung, und Muttererde, die ich herumkarren muss, so dass mein Bauch echt dabei schrumpft, und meine alten Muskeln es nicht glauben, aber sie werden wieder rüstig, so als ob ich zwanzig Jahre jünger wäre. Ich lese meinem Enkelkind deutsche Kinderbücher vor; ich lese ihr Ringelnnatz Gedichte, die sie sogar mit 12 noch nicht verstehen wird, aber das wichtige ist, dass sie die Phonetik so früh wie möglich mitbekommt, wenn die Gleise gelegt werden. Dazwischen Zooms mit meinem Team an der Universität, Zoom mit der Fakultät, Zoom Interview mit Gymnasiasten in der Turkei, Zoom Abend mit unseren Feunden mit virtuellen Prosits. Dann eine Zoom Rede für ein Institut in Wien, who ich ursprünglich physisch-altmodisch hätte sein sollen, wie in vielen anderen Orten in der Welt in diesem Jahr, mit Hilfe von Taxis, Subways, Flugzeugen, Übernachtungen in fremden Herbergen, wo die Matratzen zu weich sind und die Kopfkissen zu hoch oder zu hart sind und die Temperatur selten stimmt und der Aufzug Geräusche macht die ganze Nacht.

Hier ist eine andere deutsche Redensart: “Die Welt ist aus den Fugen greaten.” Mit der Zeit und Musse, die ich jetzt plötzlich habe, kommen mir Erinnerungen an deutsche Ausdrücke, und ich erkenne die Bedeutung der Sprachbilder zum ersten Mal — oder habe ich sie vor langer Zeit vergessen, und begreife sie wieder wie zuvor als kleines Kind? “Die Welt ist aus den Fugen geraten” ist so ein rührender, naiver Ausdruck, denn er geht davon aus, dass die Welt ein fest-gezimmertes Gebäude ist, wo alles stimmt wie in Gottes Schöpfung am siebten Tag. Aber die Welt, die ich gekannt hatte, bevor sich alles änderte, strafte diesen Ausdruck lügen: sie war nie in den Fugen, solange ich zurückdenke, und das ist seit dem Zweiten Weltkrieg — in der Tat, solange wir alle zurückdenken, und vor uns unsere Vorväter. In zwei prägnanten Worten: “seit Menschengedenken.”

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