Die Ernte der Seltenheit                                       Joachim Frank

(part of this collection appeared in Signaturen Magazin)

 

1. Änderungen zur Vision 5002

Statt des grünen Affen habe eine Nussbaumvitrine dort zu stehen, wo sich in Vision 5001 der übergroße Schlagring befand.  Beim Durchschweben des Raumes sei die Vagheit der damit verbundenen Empfindung mehr zu betonen.  Der unsichtbare und unhörbare Chor solle sich zumindest bewegen; wenn diese Forderung jedoch anderen zuwiderlaufe, sei er ganz zu streichen.  Der Kampf der Ratten habe nunmehr im Hühnerhof stattzufinden.  Der durch die Wolkendecke gestreckte Zeigefinger sei durch einen Mittelfinger zu ersetzen.  Der Donner sei gegenwärtig erheblich zu früh angesetzt und solle mit dem allgemeinen Aufbruch der Zimmerleute synchronisiert werden.

2. Die Verwechslung

Ein Mann geht mit seinem Hund, der ebenfalls blind ist und von einem dritten Blindenhund begleitet wird, schließlich die Strasse hinauf.  Beide Hunde beginnen plötzlich zu bellen: sie erkennen ihren früheren, früher nicht blinden Herrn und bellen ihn an.  Faß, sagt da der Blindenhund zum blinden Hund; der beißt auch richtig zu, und die beiden Herren, der gegenwärtige und früherer, fallen sich lachend in die Arme — versehentlich und führerlos – ohne ihre inzwischen allesamt blinden Hunde.

3. Versuch, die Grösse eines Wasserbetts (Kingsize) zu beschreiben.

Ein Wasserbett, Größe Kingsize, ist zum Beispiel größer als eine Wasserpumpe, bei weitem grösser als ein Glasauge, jedoch kleiner als ein unterfränkischer Traktor, hat vielleicht die Größe eines geeignet verformten Lamas; es ist größer als die Sonntagsausgabe der Los Angeles Times, aber bei weitem kleiner als die Tagesauflage der Süddeutschen Zeitung; es ist sehr, sehr klein im Vergleich zu einer Riesenwurstattrappe auf dem Oktoberfest, aber wiederum recht groß verglichen mit einem verkleinerten VW-Modell; man könnte glatt achtzehn kalifornische Hydranten quer legen und vier längs; man könnte es füllen mit den Daunen eines mittleren oberbayrischen Hotels, die Kopfkissen ausgenommen, und es wäre immer noch zu groß.

4. Schöp-Fung

Ham-Ha schuf die erste Weise des Seins: er war.  Mit ihm war Non-Ding, Wu-To und Ham-Ha, der schuf die erste Weise des Seins: er war.  Tsen-Te schuf die zweite Weise des Seins: er wurde Ham-Ha, der die erste Weise des Seins schuf und war.  Und Bram-Han schuf die dritte Weise des Seins: er strebte danach, Tsen-Te zu werden und trotzdem Ham-Ha zu sein.  Er war Bram-Han, und mit ihm Non-Ding, Wu-To und Ham-Ha, der schuf die erste Weise des Seins: er war Bram-Han.

5. Inventur

Der Sog, der Wirbel, der Strudel, die Zeit.

Der Apfel, der Baum, die Krone, der Kaiser, der Schnitt, das Gold, die Zeit.

Der Wurm, die Linde, der Drache, das Fenster, der Herbst, die Zeit.

Die Körnigkeit des Rezeptes, die Größe des Arztes, der Schwung der Locke.

Die Härte des Weizens, die Güte der Ernte, die Betonung der Seltenheit.

Die Schönheit  des Frostes, die Verläßlichkeit der Stadt, das Los des Weins.

Die Verwegenheit des Bösen, die Rundheit des Gedankens, die Gelblichkeit von heute.

Die Seltenheit der Größe, der Schwung der Härte, die Güte der Betonung.

Die Schönheit der Verläßlichkeit, das Los der Verwegenheit, die Rundheit der Gelblichkeit.

Das Fenster des Arztes, die Locke des Weizens, die Ernte der Seltenheit.

Der Frost der Städte, der Wein des Bösen, der Gedanke von gestern.

6. Der Mann mit dem  Erdnussbuttergehirn

Er hat einen stumpfen, ängstlichen Blick, die Angst wird nicht etwa durch schelle Augenbewegungen, sondern durch eine leichte Verformung der Gesichtszüge ausgedrückt.  Er hat mindestens eine Warze im Gesicht, und die ist unbehaart.  Die Gesichtsform ist rundlich, der Hinterkopf flach. Andeutung einer Nackenfalte.  Er spricht knarrend, leckt sich dabei öfter die Lippen.  Dabei entsteht ein Geräusch, als ob ein Tropfen aus etwa fünfundzwanzig Zentimeter Höhe in den Ausguß fällt.  Die Bewegungen sind heftig und wenig koordiniert, was bei dem völligen Fehlen von Tastempfinden zu erwarten ist.

7. Die Schwester

Der Bruder hält sich draußen auf,

der Vater kocht das Essen.

Die Mutter jammert vor sich hin:

das Essen ist die Schwester!

Der Bruder isst das Essen auf,

der Vater sitzt daneben.

Die Mutter sieht zum Fenster raus:

da draußen steht die Schwester.

Der Bruder rülpst sich eins im Stuhl,

der Vater schnarcht im Schlaf.

Die Mutter räumt die Teller auf:

im Abwasch schwimmt die Schwester.

Der Bruder geht zur Tür hinaus,

der Hunger weckt den Vater.

Die Mutter wetzt das Messer scharf:

in der Ecke sitzt die Schwester.

Der Bruder . . .

8. Tus-Kus

Die Leute auf Hin, einem Planeten, der seit beträchtlicher Zeit um Tus-Kus kreist, sind von großer Fröhlichkeit, wenn auch kleinem Wuchs.  Sie leben fröhlich in dem pulsierenden Licht des Doppelgestirns, das den Himmel erfüllt und nie vergeht.  Seltene Naturerscheinungen wie die bifokalen Neutrinoschauer oder Annihilationen am Meridian werden von ihnen mit einem Fest gefeiert, das diesen Namen trägt: “Tag der anderen Wesen auf Hin.”  Während dieses Festes begatten sich die Leute auf Hin ausgiebig, nur von gelegentlicher Nahrungsaufnahme unterbrochen, nach dreitägiger Massage ihrer komplizierten Organe.

            Ein solches Fest wurde auch gefeiert, nachdem eine gelb-schimmernde Platte mit einem rätselhaften Muster vom Himmel gefallen war.  Das Muster zeigte ein Doppelgestirn, war aber weiter nicht zu entziffern.  Es wurde angenommen, daß die beiden Götter Tus und Kus eine Botschaft gesandt hatten, und dass diese Botschaft verheißungsvoll war.  Einige sagten sogar, dass dies ein Stück Haut von Tus oder Kus sei und deshalb einen so un-hinnischen Glanz austrahlte.  Und das Muster sei nur ein kleiner Teil der großen allumfassenden Zeichnung, die den Leib sowohl von Tus als auch von Kus umhüllt und bekanntlicherweise alles enthält: die Vergangenheit, die Gegenwart, und die Zukunft.  Andere sagten, das herausgefallene Stück habe ein Loch gelassen, durch das Tod und Unheil stürmen würden.  Doch die Mehrzahl nahm es als Freudenbotschaft.

            Eine große Prozession bewegte sich langsam an der Platte vorbei, die auf einem Podium ausgestellt war.  Jeder berührte sie ehrfürchtig, mit Lippen, Händen, und After.

            Alle, die am Fest teilgenommen hatten, starben noch am folgenden Tag.  In den feinen Linien der Gravur nisteten Bakterien vom Typ Escherichia coli. Sie stammten von Speichel von Linda Salzmann Sagan, aus Ithaca, New York, Vereinigte Staaten von America, Erde, “Sonnen-system”, Galaxis, eines der kleinen Nebel der Uokisgruppe, die von Hin aus bei gutem Wetter und bei der Konstellation Kus-Tus des Doppelgestirns Tus-Kus mit blossem Nefti am Nachthimmel sichtbar ist.

9. Die Vögel

Wir kamen am Gelände des Germeringer Bogenschutzenvereins vorbei.  Ich sagte gerade zu meinem Freund Jan, “Das hier ist der Armbrustverein,” als aus der Baumkrone direkt über uns zwei Vögel aufflogen, mit Geplärr und lautem Flügelschlagen, und in dem dichten Wald verschwanden.

Also, es waren mit Sicherheit Truthühner, Fasanen, oder Auerhähne.  Oder eine andere Vogelart, an die sich Jan nicht erinnern konnte.

Sie waren eigentlich sehr plump.  Recht besehen, flogen sie gar nicht auf, sondern ließen sich fallen aus einer behaglichen Sitzstellung und begannen im kritischen Moment zu fliegen, als der Fall zu schnell wurde.

Sie hatten große gelbe Schnäbel, damit wir sie gegen den Nachthimmel noch ausmachen konnten.

Es war kalt an diesem Morgen, und man konnte annehmen, dass sie vor dem Klang des Wortes “Armbrustverein” noch eng aneinandergekauert gessessen hatten.

Aus dieser engen behaglichen Sitzstellung begannen sie also gleichzeitig zu fliegen, die einander zugekehrten Flügel unbewegt, aus Platzmangel; die anderen Flügel weit ausholend, so dass sie in der Mitte zusammenschlugen.

Jetzt holen die einander zugekehrten Flügel aus zum Schlag, schlagen aneinander und reißen die Tiere herum in Gegenrichtung.  Die Vögel fliegen davon, während sie über die Richtungsumkehr schimpfen und ihre Zukunft besprechen.

Sie waren eigentlich noch grösser als Auerhähne, waren eher Robben, die ihnen an Geschmeidigkeit und Beweglichkeit nicht nachstehen.

Sie fliegen pfeilgerade, gar nicht plump, mit schnellen schwirrenden Bewegungen ihrer Flossen.

Beim Absturz – wenn es je dazu kommt – erzeugen sie Krater, in deren Mitte sie stecken, halb in der Erde, halb in der Luft, und aus denen sie sich mit schnellen Wendungen freikämpfen.

Die Robben ziehen über die Großstadt, unbeirrt von kleinerem Getier, weichen nur hin und wieder dem Luftraum über Spielsalons aus, in denen Flipperautomaten stehen.  Man sieht sie in  der Abenddämmerung im Westen als Silhouetten.  Die Kinder bleiben stehen, doch die Eltern treiben sie zur Eile.

Du sitzt dann im achten Stock eines Mietshauses nahe am Fenster, schweigend und Knoten knüpfend.  Andere neben dir häkeln oder stricken, oder bewegen nur ihre Hände, um etwas zu tun.  Sie sehen wie du mit schräg hockgestellten Köpfen in den Nachthimmel hinaus.  Du erwartest die Robben und fürchtest zugleich, dass sie wirklich kommen.  Dein Herz schlägt ruhig, weil du schon gefasst bist.

Das Knüpfen und Stricken verläuft synchron, als seien die kleinen Finger aller rechten Hände und die aller linken Hände jeweils miteinander verbunden.  Ein hohes Surren ist zu hören, noch weit entfernt, und die Blicke werden gespannter.

Das Ballett der sitzenden Knüpfer und Strickerinnen macht eine jähe Bewegung und beginnt zu singen, vereinigt sich zu einer Überperson, die dem Ereignis entgegentreten kann.

Die sanften Spindeln der Robben erscheinen am Himmel, sie rotieren leicht, ihre Körper irisieren und funkeln, ihre Augen haben den milden Zorn von Vätern.

Das Ballett singt lauter und wartet auf das Klirren der Scheiben.  Doch dann sind es die Mauern, die bersten.

10. Die Gallenblasenoperation

Ich habe meine entzündete Gallenblase in einer Do-it-yourself-Operation herausgelöst.  Sie hängt jetzt im Freien vor meinem Bauch.  Sie hat die Form und Größe etwa eines Schraubenziehergriffs.  Ich steche sie am Ende auf, um die Heilung einzuleiten und den Schmerz zu lindern.  Ich wickle saubere Tuecher um meinen Leib, die die Gallenblase warm und sicher auf meiner Haut fixieren.

Nur um sicher zu gehen, zeige ich das Ergebnis einem Arzt in der Klinik.  Der macht ein besorgtes Gesicht: an und für sich habe ich alles richtig gemacht, aber es besteht die Gefahr einer Infektion mit Strombose, die die italienischen Gastarbeiter eingeschleppt haben, und die in sechzig bis achtzig Prozent tödlich ausgeht.  Ich solle deshalb mehrere Tage in der Klinik verbringen, um dises Risiko auszuschliessen.

Ich danke ihm für die Auskunft und verlasse das Gebäude.  Man hätte Lust, schwimmen zu gehen.  Die Bäume stehen in Blüte.  Ich setze mich auf eine Bank, um die Pracht zu genießen. Dann fällt mir ein, dass der Arzt gemeint haben könnte, dass ich sofort in der Klinik hätte bleiben müssen.  Ich gehe zur Klinik zurück und finde sie verschlossen.  Der Pförtner und ein paar Schwestern sind in der Eingangshalle zu sehen.  Ich gestikuliere und zeige wiederholt auf meinen Verband, dahin, wo unter einer sanften Ausbuchtung meine rekonvaleszente Galleblase liegt.  Die Schwestern zeigen Erbarmen und öffnen die Tür.

eitWährend ich beginne, meine Geschichte zu erzählen, versammeln sich mehr und mehr Klinikpersonal, Ärzte, Schwestern und Pfleger in der Eingangshalle.  Schließlich erscheint der Klinikleiter und möchte alles wieder von vorne hören.  Er regt an, die Sache doch lieber in der Gaststätte nebenan zu verhandeln, und alle stimmen freudig zu.  Wir trinken Wein, und der Klinikleiter wird redselig.  Dann fordert er mich auf, die Geschichte mal ausführlich zu erzählen.  Ich stehe auf und beginne erneut, immer wieder von Klinikwitzen, sarkastischen Bemerkungen und Lachsalven unterbrochen.  Die Operation muss ich in allen Einzelheiten schildern.  Der Klinikleiter unterbricht mich immer wieder mit einer Handbewegung und flicht eine Seitengeschichte über seine Zeit als Sanitätsarzt im Zweiten Weltkrieg ein, oder über schwierige Operationen mit lethalem Ausgang.  Die Ärzte sind inzwischen ebenfalls in Form geraten und wagen hin und wieder eine Richtigstellung; schließlich tragen sie zur Unterhaltung bei mit richtigen kleinen Geschichten, die sich freilich bescheiden ausnehmen gegenüber der Epik des Chefs. Mühselig kaempfe ich mich auf den Besuch in ihrer Klinik zu, kann aber die Sätze nicht mehr beenden und sehe auch nicht mehr die Notwendigkeit, ganze Sätze zu produzieren.  Hin und wieder kommt ein verständnisloser Blick, so als sei ich es, der eine zusammenhängende Story zu Fall bringt.  Zuletzt sind wir ein vielstimmiger Chor, der ein Lied der conditio humana singt; jeder trägt sein Scherflein bei.  Brausend erhebt sich der Gesang von Freud und Leid einer Menschheit, die es fast zu etwas gebracht hätte, und schwebt über unseren Häuptern; das Exempel der Gallenblase tritt hier und da als Leitmotiv hervor.


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